Vortrag am 13.02.2020
Pierre Stutz: »Liebe«
Mehr als 70 Interessierte fanden sich am Vorabend des Valentinstags in der Kaminhalle von Haus Walstedde zu einem Vortrag über die Liebe ein. Hierfür hatte die Akademie Gegenwart e.V. den bekannten Schweizer Theologen und spirituellen Autor Pierre Stutz gewonnen.
Auf authentische, tiefgründige und auch humorvolle Weise und immer wieder ausgehend von eigenen Lebenserfahrungen, hielt er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Liebe in ihrem Dreiklang: die Liebe zu sich selbst, die Liebe zum Anderen - auch als erotische Liebe - und die Liebe zum göttlichen Du. Gerade auf dem Hintergrund von Lust- und Körperfeindlichkeit im Christentum warb Pierre Stutz für eine Versöhnung von Spiritualität und Sexualität.
Gegen den »Glückswahn«
Nach einer musikalischen Einstimmung mit Franz Schuberts »Impromptu in Ges-Dur«, dargeboten von Beatrix Wortmeier, und der Einführung des Referenten durch Pfarrerin Dagmar Spelsberg-Sühling eröffnete dieser seinen Vortrag mit der Aussage »Glücklich werden wir als Liebende.« Gegen den herrschenden Glücks -und Selbstoptimierungswahn wolle er eine andere Spur zeigen: »Glücklich bin ich, wenn ich jeden Tag auch unglücklich sein darf.« Zur Liebe gehöre Berührbarkeit und damit Verwundbarkeit.
Liebe als Dreiklang
Viele seiner Aussagen verdeutlichte Pierre Stutz an seiner eigenen Biografie. Mit 38 Jahren erlebte er eine große Wende in seinem Leben. Seine damalige Haltung, Tag für Tag für andere da sein zu wollen, deutete er im Nachhinein als Flucht vor sich selbst, die ihn in einen Burn-out führte. In einer zweijährigen Phase der Erschöpfung und Neuorientierung hätten ihn die Texte der Mystik zu einem neuen Verständnis von Liebe geführt: Wer sich selbst nicht liebt, der kann andere nicht lieben (Erich Fromm). Der ehemalige Priester beginnt den Dreiklang, ja die Einheit von Selbstliebe, Nächstenliebe und Gottesliebe zu lernen. »Wer nicht zu sich selbst gelangt, der findet auch Gott nicht.« (Edith Stein). Wie anspruchsvoll der Weg ist, sich mit sich selbst zu befreunden, erfuhr Pierre Stutz bei sich selbst: »Ich bin aufgewachsen mit täglich 5 × 3 Löffel „was denken die anderen?" und kenne zur Genüge, nicht zu genügen.« In einer solchen Erziehung zeige sich eine Schattenseite der Religion: »Wo es schwer und anstrengend ist, meinte man den Willen Gottes zu finden. Wo die Lust ist, wo es leicht ist und fließt, da sah man den Teufel am Werk.« Dabei verkannte man, dass die Urkräfte der Erotik und Sexualität göttlich-schöpferische Kräfte sind. Verdeutlichend zitierte der Referent den Philosophen Friedrich Nietzsche: »Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken. Er starb zwar nicht, aber entartete zum Laster.«
Tabuisierung von Sexualität durch Religion
Entsprechend komme im griechischen Teil der Bibel, dem Neuen Testament, der Begriff Eros (die leidenschaftliche Liebe) nicht vor. Lediglich die freundschaftliche Liebe und die karitativ-schenkende Liebe würden mit Religion in Verbindung gebracht. Dadurch seien die Pole des Religiösen und des Geschlechtlichen getrennt worden - ein unheilvoller Bruch, der heute wieder geheilt werden müsse. Überall in den Religionen gebe es das Phänomen der Tabuisierung von Sexualität, so auch etwa im Buddhismus. Dabei seien Liebe und Leidenschaft zutiefst spirituelle Quellen.
Das Hohelied der Liebe
Stutz gab den Zuhörenden die Empfehlung, noch am selben Abend die acht Seiten des Hohen Liedes der Liebe zu lesen. Dieser Text, ein sehr sinnlicher Dialog zweier Liebender, müsse durch eine List des Heiligen Geistes in die Bibel gelangt sein, stellte er augenzwinkernd fest. Im Begehren der beiden Liebenden dürfe man auch die Liebe Gottes sehen, der sich selbst den Liebenden schenke. Das Hohelied sei übrigens das einzige biblische Buch, das mit der Stimme einer Frau beginne: »Küssen soll er mich mit den Küssen seines Mundes....«. Zu einigen Versen des Hohen Liedes hatte der Autor selbst poetische Meditationen verfasst, die er dem Publikum eindrucksvoll vortrug – ein lebendiges Plädoyer für eine erotische Spiritualität.
Für eine erotische Lebenskultur
Mit innigen Worten warb der Referent für eine erotische Lebenskultur im Alltag. Diese beginne mit bewusster Achtsamkeit, etwa beim Kochen mit einer »Zucchini-oder Zitronen-Meditation. Paaren empfahl er den Mut zu neuen Ritualen in der Zweisamkeit, etwa zu einer gegenseitigen Massage des ganzen Körpers oder auch einem Segnen der Chakren, den Hauptenergiezentren entlang der Wirbelsäule. Und er warb für den Mut, dies als etwas »Heiliges« zu verstehen, gar als »erotische Gottesdienste im Schlafzimmer«.
Liebe und Konfliktfähigkeit
Abschließend betonte Pierre Stutz, dass die echte Liebe von einer Kultur der Konfliktfähigkeit lebe. Entsprechend gehörten zur Liebe ebenfalls Ärger, Zorn und Wut - auch am Valentinstag. Im Wahrnehmen und Annehmen dieser Emotionen sei auch die heilende göttliche Kraft spürbar. Aggression im eigentlichen Sinne meine, die Herausforderung des Lebens, die Herausforderung des Tages, die Herausforderung des Lebens zu ergreifen. Nach den Worten des Schriftstellers Elie Wiesel sei entsprechend das Gegenteil der Liebe nicht der Hass, sondern die Gleichgültigkeit.
Austausch und Ausklang
Im Anschluss an den Vortrag und eine kurze Aussprache im Plenum konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer einander bei Getränken und Häppchen begegnen und angeregt über das Gehörte austauschen. An einem Büchertisch gab es die Gelegenheit zu Gesprächen mit dem Autor, der seine Werke mit persönlichen Widmungen signierte.
Marie Kortenbusch