Vortrag am 14.08.2022

Scham – die tabuisierte Emotion

Scham – die tabuisierte Emotion, mit diesem Thema fand am Sonntag, 14.8.2022 ein Vortrag des Sozialwissenschaftlers Dr. Stephan Marks im Hotel „Leib und Seele" in Walstedde statt. Herr Marks hat seine Forschungen zum Thema „Scham" und „Würde" in mehreren Büchern zum Thema veröffentlicht.

Nach Begrüßung durch Prof. Dr. Josef Weglage wurde die Veranstaltung stimmungsvoll eingeleitet mit einer Präsentation am Klavier durch Simon Wiesrecker.

Eine Metapher von Salman Rushdie aufgreifend zeigte Herr Marks anschaulich durch mehr oder weniger gefüllte Becher: Wenn zu viel Scham da ist, fließt der Becher über.... Anknüpfend an dieses Bild, wird zwischen einem gesunden Maß und einem Zuviel an Scham unterschieden – einerseits normale „gesunde" Scham als Entwicklungsanstoß und als „Wächterin der menschlichen Würde" (Leon Wurmser) und andererseits „pathologische Scham", die sich durch Zuviel an Missachtung, durch Kränkung und durch Ausgrenzungserfahrungen ansammelt. Herr Marks beschäftigt sich in seiner Forschung seit Jahrzehnten mit dem Thema „Scham" und hat Scham und deren mangelnde Bewältigung als Mitursache für den Erfolg Hitlers identifiziert (dazu sein Buch: „Warum folgten sie Hitler – Psychologie des Nationalsozialismus").

Schamgefühle sind tabuisiert, werden im Alltag meist nicht bewusst gefühlt und benannt. Dabei machen wir alle mehr oder weniger Scham-Erfahrungen im Laufe des Lebens, u.a. durch Erziehung in Familie und Schule, in Ausbildung und Beruf... in individuell unterschiedlichem Ausmaß, auch je nach Alter, Geschlecht, Kulturzugehörigkeit.

Scham macht körperliche Auswirkungen: Blick gesenkt, eingeigelt, verschlossen, „um sich kreisend", was neue (positive) Erfahrungen erschweren kann. Bei Beschämung und Mobbing im Sinne von „verhöhnt, verachtet und ausgegrenzt zu werden" wird das Ich von Schamgefühlen überflutet. Einen Fehler gemacht zu haben wird dann erlebt als „ein Fehler sein", als ein Zustand existenzieller Angst. In vielen Beispielen beschrieb der Referent auch, dass bewusste Beschämung Anderer oftmals der Machtausübung dient.

Um sich davor zu schützen, beschämt zu werden, greifen manche Menschen (hauptsächlich Männer) zu Abwehrmechanismen wie Imponiergehabe, Arroganz und Überheblichkeit, Trotz, Wut bis hin zu körperlicher und psychischer Gewalt. Manche, zumeist Frauen, versuchen sich „unsichtbar und klein zu machen", „zu verschwinden".

Vorstufen der Scham erleben Menschen schon sehr früh im Leben: Von besonderer Bedeutung ist der Blick, ist die Qualität des Augen-Kontakts – wie wurde ich angeschaut, liebevoll oder zumeist kritisch?

Scham bewirkt, dass Menschen „ihr Licht unter den Scheffel stellen", sich nicht trauen, sich mit eigenen Leistungen an die Öffentlichkeit zu wagen, weil sie fürchten ausgelacht, also beschämt zu werden. Auch die „Schummelkultur", nicht zu eigenen Fehlern zu stehen, nach dem Motto: „Ich war´s nicht!" zeigt den Umgang mit Scham in Familie und Gesellschaft.In vielen Kulturen werden Schamgefühle auf Minderheiten projiziert und so „entsorgt": Menschen werden zu „Sündenböcken" gemacht (z.B. „Zigeuner", Juden, Flüchtlinge, Arbeitslose...). Durch Abgrenzung von „denen da", wird der eigene Selbstwert aufpoliert, die Minderheiten werden stigmatisiert und ausgeschlossen.

Besonderes Augenmerk gilt dem Umgang mit Scham in der Alten- und Krankenpflege, wo Betroffene einerseits durch mangelnde Rücksicht auf Intimitätsbedürfnisse, andererseits durch strukturelle Bedingungen wie z.B. Zeitmangel unnötig beschämt werden. Umgekehrt erfahren auch die Pflegenden oft Beleidigungen anstelle von Respekt und Würdigung ihres Einsatzes, so dass Gewalt in der Pflege oft durch wechselseitige Beschämung im Sinne eines Scham – Schuld – Teufelskreises verstanden werden kann.

Am Montagmorgen wurde das Thema in einem Workshop fortgesetzt: Verschiedene Grundformen der Scham wurden betrachtet und Ansätze für einen förderlichen Umgang damit erarbeitet: Scham infolge von Missachtung, Scham infolge von Grenzverletzungen („Intimitätsscham"), Scham infolge von Ausgrenzung und Scham infolge Verletzung eigener Werte. Schlussfolgerung: Die Würde eines Menschen zu achten, bedeutet – aus Sicht der Scham- Psychologie – ihm oder ihr überflüssige, vermeidbare Scham zu ersparen. Das heißt,
einen „Raum" zur Verfügung zu stellen, in dem er oder sie Anerkennung, Schutz,
Zugehörigkeit und Integrität erfährt.


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